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Russisches Roulette

Das Ganze entwickelt sich mittlerweile zur Farce. Sogar von politischer Kriegsführung beim Eurovision Song Contest ist die Rede. Und dabei soll der Eurovision Song Contest doch gar nicht politisch sein. Nun, in der mittlerweile 62-jährigen Historie gab es schon so manchen Skandal. Spätestens seit Jamalas Sieg im Vorjahr wurden auch die letzten Gutgläubigen vom Gegenteil überzeugt. Der ESC ist doch politisch. Doch das, was sich in diesem Jahr abspielt, ist tatsächlich ein Novum. Julia Samoylova darf nicht in die Ukraine einreisen! Wie die Bühne des größten Musikwettbewerbes der Welt derart missbraucht wird. Wie eine im Rollstuhl sitzende Sängerin als Waffe eingesetzt wird – ein tragischer Höhepunkt im Vorfeld des friedlichen Liederwettstreits anno 2017.

Sicherlich verständlich. Russland war stinksauer, als 2016 das Lied der Ukraine für Stockholm feststand. Jamala hatte die Vorentscheidung mit "1944" gewonnen. Die Russen kommen bei dieser geschichtlichen Betrachtung nicht gut weg. Es folgten Proteste von Seiten des Nachbarn, die EBU solle das Lied nicht zum Wettbewerb zulassen. Schließlich hatte das größte Land der Erde damit schon Erfahrung. 2009, während des Konflikts im Kaukasus, wehrte sich Russland gegen den georgischen Beitrag "We Don’t Wanna Put In" und hatte Erfolg. Georgien wollte kein anderes Lied nominieren und zog die Teilnahme anschließend zurück. 2016 aber scheiterte der Protest. Und dann gewann ausgerechnet die Ukraine in Stockholm. Und Russland zeigte seine Reaktion darauf deutlich: Als Jamalas Sieg feststand, verließ die Delegation umgehen den Saal.

Für den Eurovision Song Contest 2017 in Kiew informierte die Ukraine, dass alle Nationen willkommen seien. Ohne Ausnahme. Lediglich an die Adresse Russlands gerichtet stellte das Organisationskomitee klar, noch bevor der erste Teilnehmer überhaupt seine Fahrkarte nach Kiew erhielt, der Nachbar solle niemanden entsenden, der zuvor auf der Krim aufgetreten war. Oder die Besetzung gut hieß. Mit der Begründung, dies sei mittlerweile im ukrainischen Gesetz verankert. Somit war Russland informiert. Monate später dann, kurz vor Deadline, die Direktnominierung. Die 27-jährige Julia Samoylova, in ihrer Heimat äußerst populär, solle teilnehmen. Seit ihrer Kindheit sitzt sie im Rollstuhl und hatte ihren größten Auftritt bei den Paralympics. Doch kurze Zeit später sickerte die Information durch, dass eine ganz andere Performance aus ihrer Vergangenheit nun Probleme machte: Julia trat 2015 auf der Krim auf. Wer die Halbinsel nicht über die Ukraine bereist wird mit einem dreijährigen Einreiseverbot laut Gesetz "bestraft". Damit setzte Russland die Ukraine unter Druck. Und es war ihnen sehr wohl bewusst, was sie damit auslösen würden. Denn die Vorgabe war eindeutig. Sollte der diesjährige Gastgeber einknicken und trotz der ukrainischen Gesetze die Einreise ermöglichen, würde dies als Sieg Russlands interpretiert werden. Sollte jedoch die Ukraine die Einreise verweigern, ständen diese als Behinderten feindlich und diskriminierend da. Diese Zwickmühle war von Russland gewollt. Ein "Foulspiel" der übelsten Sorte.

Die EBU ist nun um Schadensbegrenzung bemüht. Was blieb auch anderes übrig? Jan Ola Sand schlug vor, Julia Samoylova ausnahmsweise per Satelliten-Schaltung in die Sendung zu katapultieren. Somit könne Russland trotz Einreiseverbot teilnehmen. Das widerspräche zwar den Regeln des ESC, wonach jeder Teilnehmer vor Ort live singen müsse, wäre aber, wie erwähnt, eine Ausnahme. Nun stand dieser Vorschlag im Raum und Russland war an der Reihe zu reagieren. Es kam ein striktes "Njet" aus Moskau, mit der Begründung, dass die Regeln für Julia Samoylova nicht geändert werden sollen. Diese Antwort war blanker Hohn. Erwartete man doch tatsächlich, dass ukrainisches Recht gebrochen wird? Im umgekehrten Fall wäre die Reaktion ebenso deutlich ausgefallen.

Mittlerweile ist der Stand erreicht, dass Russland wohl einen Rückzug vom Eurovision Song Contest in Erwägung zieht. Ob es sich hierbei nur um die diesjährige Veranstaltung handelt, ist unklar. Es ist zu wünschen, dass die Russen nicht dem türkischen Beispiel folgen und Teil der großen "Eurovisionsfamilie" bleiben. Allerdings ohne "Russisches Roulette" im Vorfeld. Wobei es beim "Russischen Roulette" nicht ganz klar ist, ob derjenige nun gewonnen oder verloren hat, der "ins Schwarze" trifft. Hauptleidtragende ist die Sängerin, die geplant zwischen die Fronten geriet. Behinderte wollen kein Mitleid. Sie wollen behandelt werden, wie jeder andere auch. Aber in dieser speziellen Situation ist Julia Samoylova zu bemitleiden. Die 27-jährige wollte sich mit der Teilnahme am Eurovision Song Contest ihren Lebenstraum erfüllen, und wird nun zum Spielball der Macht. Aber auch die russische Bevölkerung hat unter diesem "Spielchen" zu leiden. Sie werden, eventuell, um die Teilnahme "ihres" Landes im Wettbewerb gebracht. Die acht Punkte im Televoting vor drei Jahren für Conchita Wurst haben gezeigt, dass die russische Bevölkerung ebenso für Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von allen Völkern, Farben und Schattierungen ist.

Ganz klar ist aber, dass die ganze Aktion der ausrichtenden Fernsehanstalt für den Eurovision Song Contest in Russland dem Wettbewerb geschadet hat. Schließlich sollen Sänger(in) und Lieder im Vordergrund stehen. Europa ist an diesem einen Abend durch die Musik vereint. Auch wenn wir uns an kleinere Skandale, und ein wenig Politik (vor allem bei der Punktevergabe) schon gewöhnt haben. Aber Krieg widerspricht allem.


Julia Samoylova gerät zwischen die "Kriegsfronten"
Dabei will sich die 27-jährige "nur" ihren Traum von der ESC-Teilnahme erfüllen
Bild: © Channel 1 Russia