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Israel gewinnt mit "Toy" den 63. Eurovision Song Contest

Kurz nach Mitternacht mitteleuropäischer Zeit stand es fest, was den meisten ohnehin schon seit zwei Monaten klar war: Netta hat den Eurovision Song Contest 2018 gewonnen. Auf der einen Seite steht der Sieg für Vielfalt und Andersartigkeit. Dass in der Popwelt nicht alles nur auf Schönheit und Ästhetik, was ohnehin eine subjektive Einschätzung ist, reduziert ist. Auf der anderen Seite zeigt auch dieser Sieg, dass der Eurovision Song Contest, zumindest für die Zuschauer, nicht politisch ist. Denn auf dieser Ebene steht Israel derzeit nicht gerade ruhmreich da.

Aber in erster Linie dürfen wir Deutschen uns über einen grandiosen und völlig unerwarteten 4. Platz für Michael Schulte und seine Hommage an seinen verstorbenen Vater freuen. Dies ist so etwas wie ein Sieg der leisen Töne und der Authentizität. Es bestätigt auch die Aussage von ESC-Gewinner Salvador Sobral aus dem letzten Jahr: "Dies war ein Sieg der Musik und nicht der Show". Sowohl beim Publikum, als auch bei der Jury kam an: Hier steht ein junger Mann auf der Bühne, der über seine persönlichen Erfahrungen und seine Emotionen singt. Der 28-jährige berührte die Menschen. Und er war berührt, als er vor 200 Millionen Zuschauern europa- und weltweit mit den Tränen kämpfte.

Es gab aber auch andere Highlights. Negative und positive. Die Ukraine durfte, nach Mariya Yaremchuk im Jahr 2014, zum zweiten Mal den Finalwettbewerb eröffnen. Die EBU sowie die Produzenten setzten konsequent die "Tradition" fort, dass eher chancenlose Balladen auf der Startnummer 2 antreten "dürfen". In diesem Jahr traf es die "junge Liebe" in Form von Amaia und Alfred mit ihrem "zuckersüßen" Song "Tu canción". Die Platzierung jenseits der 20 kam somit nicht überraschend.

Österreichs Cesár Sampson hatte sich unsere Kritik wohl zu Herzen genommen und in seine eher statische Performance aus dem Semifinale deutlich mehr Power hineingesteckt. Der Lohn dafür war der 1. Platz bei den Jurys. Beim Publikum dagegen landete der 34-jährige lediglich auf Platz 13. Ein Unterschied von zwölf Rängen, was wieder die Diskussion zwischen Sinn und Unsinn der Jurys, die konsequent am Geschmack der Zuschauer vorbei werten, entflammen lässt. Und eine Jury wertet politisch. Auch wenn die EBU immer wieder betont, der Wettbewerb sei nicht politisch. Das ist er doch. Weitere unrühmliche Beispiele dieses Jahrgangs stellen die Beiträge aus Tschechien, Italien, Dänemark und der Ukraine dar. Geheimfavorit Mikolas Josef kam bei den "Experten" lediglich auf Rang 15. Das Publikum wählte "Lie To Me" auf Platz 4. Hier könnte die fehlende Tradition unseres Nachbarlandes, welches lediglich eine Finalteilnahme bislang vorweisen konnte, eine Rolle bei den Jurys gespielt haben. Italien, welches nach Il Volo 2015 in Wien das zweite Mal die letzte Startnummer zugesprochen bekam, ist ein ähnlich geartetes Beispiel. 2011 bei der Rückkehr nach 14 Jahren war Raphael Gualazzi der Star der Musikschaffenden. Mittlerweile werten diese das Land der grandiosen Musiker in Grund und Boden. Ermal Meta & Fabrizio Moro erhielten für ihre Botschaft "Non mi avete fatto niente" von den Fachjuroren 59 Punkte und Platz 17, beim Publikum erhielt der authentische Song 249 Punkte, was gleichbedeutend mit Rang 3 war. Das deutsche Publikum sah die Italiener auf Platz 1. Bei der Ukraine war eine Diskrepanz von 19 Plätzen zu verzeichnen (letzter Platz bei der Jury), bei Wikinger Rasmussen aus Dänemark 16 Plätze. Die Zuschauer sahen den Rotschopf, völlig zurecht, auf Platz 5.

Alexander Rybak hatte sich seine Rückkehr auf die ESC-Bühne wohl auch anders vorgestellt. Um Mitternacht war es bereits abzusehen, dass Europa und Australien ihm kein Geburtstagsgeschenk in Form eines zweiten Sieges nach 2009 zukommen lassen würde. Platz 15 ist für den erfolgsverwöhnten Sänger und Violinisten eine ziemliche Klatsche. Was aber bei dem altmodischen "That’s How You Write A Song" nicht verwundert und durchaus gerecht erscheint.

Auf dem harten Boden der Tatsachen ist nun auch wieder Gastgeber Portugal unsanft gelandet. Auch hier war es im Vorfeld abzusehen, dass es für Cláudia Pascoal und ihre Komponistin Isaura lediglich zum 26. und letzten Platz reichen würde. Schade, nach dem großen Triumph 2017. Es bleibt den Portugiesen zu wünschen, dass sie nicht wieder 53 Jahre auf den nächsten Sieg warten müssen.

Der insgesamt 60. Beitrag aus dem Vereinigten Königreich wird Dank eines unrühmlichen Zwischenfalls doppelt in die Geschichte eingehen. Arme SuRie. Die Sängerin kämpfte verbissen um aus ihrem lauen Lüftchen "Storm" das Optimale herauszuholen. Gestört wurde die 29-jährige von "Dr. ACactivism". Mit den (unverständlichen) Worten "Für die Nazis der britischen Medien: Wir verlangen Freiheit!" unterbrach er jäh die bis dahin tadellose Darbietung. Glücklicherweise waren die Sicherheitskräfte schnell zur Stelle und führten den Störenfried flugs von der Bühne. Jeder andere hätte vielleicht abgebrochen. Doch nicht SuRie. Diese Aktion weckte nur noch mehr ihren Kampfesgeist. Völlig unverständlich von Sängerin und BBC wurde ein nochmaliger Auftritt nach der letzten Startnummer abgelehnt. Am Montag nach der Show erzählte Großbritanniens Vertreterin, sie habe bei der Attacke Schrammen und Prellungen erlitten: "Das Ganze ging so schnell, da die Security sofort da war. Die Chorsängerinnen machten ja weiter, und die Menge jubelte auch weiter. Dann sah ich das Mikro am Boden und dachte: Nun, das gehört mir. Den Song bringe ich zu Ende". Trotzdem reichte es am Ende lediglich für den drittletzten Platz. BBC-Kommentator Graham Norton äußerte, ohne diesen Zwischenfall hätte es durchaus noch schlimmer kommen können.

Frankreichs Madame Monsieur konnten ihrer Favoritenrolle auch nicht gerecht werden. Der letzte Siegeswille fehlte bei "Mercy" leider. Was hier zu wenig war, war bei Jessica Mauboy zu viel. Wie ein Derwisch fegte Australiens Interpretin, gehüllt in ein nicht gerade Figur-schmeichelndes Kleid, über die Bühne. Auch als sie, wie bereits im Semifinale, das Publikum zum Mitsingen animierte und ihr Mikro Richtung Zuschauer hielt, wollten diese nicht in ihr "We Got Love" miteinstimmen. Und auch der Australien-Bonus scheint mittlerweile bei den Menschen vor den Fernsehschirmen aufgebraucht zu sein. Letzter Platz im Televoting.

Den größten Applaus in der Halle, neben Siegerin Netta, erhielten die DoReDoS aus Moldau für ihr "Bäumchen-wechsel-dich-Spiel". Nach dem Bronzerang 2017 ist der 10. Platz für "My Lucky Day" aller Ehren wert. Die erfolgsverwöhnten Schweden schafften, das erste Mal seit 2013, nicht den Sprung unter die ersten Fünf. Benjamin Ingrosso kam zwar bei den (vermeintlichen) Experten auf Platz 2 und erhielt unter anderem 12 Punkte von der deutschen Jury. Beim Publikum fiel er jedoch mit Platz 23 komplett durch. Was auch daran gelegen haben könnte, dass er, eingebettet zwischen zwei musikalischen und visuellen Krachern, schlichtweg untergegangen war. Denn nach ihm fackelten die fünf Jungs von AWS beinahe die ganze Halle ab.

Seinen 2. Platz aus 2014 mit "Calm After The Storm" konnte Waylon mit seiner Hardcore-Country-Nummer "Outlaw In 'Em“ nicht einmal annähernd wiederholen. Dennoch braucht sich der 38-jährige für seinen Auftritt sicher nicht zu schämen. Auch wenn er sich ob des Resultats ein wenig ärgerte. Dies lag aber auch möglicherweise an seinen zuckenden Tänzern. Schämen muss sich dagegen eher das chinesische Fernsehen, welches den ESC in das Reich der Mitte übertrug. Allerdings mit Ausnahme des irischen Beitrages und den zwei Händchen haltenden Tänzern. Als Konsequenz daraus entzog die EBU nach dem Semifinale den Chinesen die Übertragungsrechte für die gesamte Veranstaltung. Ryan O’Shaughnessy konnte mit "Togehter" seinen Onkel Gary O’Shaughnessy um fünf Plätze schlagen. Dieser war 2001 mit "Without Your Love" auf Platz 21 gelandet und sorgte so für eine einjährige irische Zwangspause damals.

Was wäre das für eine grandiose Story geworden. Portugal war das Land, welches seit der ersten Teilnahme am längsten auf einen Sieg beim Eurovision Song Contest warten musste. 2017 hatten 53 lange und teilweise oft schmerzhafte Jahre mit Salvador Sobrals Sieg in Kiew endlich ein Ende. Erster in dieser Statistik mit den meisten Teilnahmen ohne Sieg wurde danach Zypern, seit 1981 durchgängig im Wettbewerb mit dabei (abgesehen von Malta mit einer längeren Pause zwischen 1975 und 1991). Kurzzeitig sah es danach aus, als könnte Eleni Foureira nach 37 Jahren diese Serie beenden. Mit einer "feurigen" Performance reichte es mit der schwedischen Komposition "Fuego" zu einem grandiosen 2. Platz. Hätte die Insel im Mittelmeer gewonnen, wäre der "Staffelstab" an eine andere Insel, an Island, weiter gereicht worden. Doch so muss die Heimat von Aphrodite weiter auf den ersten Sieg beim Eurovision Song Contest warten. 

Somit wird der 64. Eurovision Song Contest, kann man der Aussage Nettas nach ihrem Sieg Glauben schenken, 2019 in Jerusalem stattfinden. Ob dies in Anbetracht der momentanen angespannten politischen Situation tatsächlich der Fall sein wird, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Das Eurovision-Island-Team gratuliert Netta und Israel zum 4. Sieg. Besonders nachdem vergangenes Jahr ein Verbleib in der Eurovisionsgemeinschaft schon auf der Kippe stand durch die Abschaltung des staatlichen israelischen Fernsehens.

Positiv hervorzuheben sind die vier Moderatorinnen, die ihre Job besser machten, als ihre drei männlichen Vorgänger. Auch, dass die Regie, zum ersten Mal seit 2015, darauf verzichtet hat die Lautstärke und die Emotionen des Publikums zu regulieren. Ein starker Applaus, wie bei den Beiträgen aus Israel und Moldau, war auch für die Fernsehzuschauer deutlich stark zu hören. Auch war der Unmut gegenüber Russland diesmal wieder vernehmbar, als verhaltene Pfiffe bei der Punktevergabe durch Sprecherin Alsou hörbar wurden. Und das ist auch gut so. Nicht unbedingt die Buh-Rufe. Sondern, dass hier keine Verfälschung der Geschichte stattfindet. Doch vor allem, dass die Demokratie und die freie Meinungsäußerung, wofür unser Kontinent steht, erhalten bleiben.


Musste dem Druck erstmal standhalten
Netta mit ihrem Team und dem zugegebenermaßen hässlichen Siegerpokal
Bild: © Andreas Putting


Kann sich über eine grandiose Performance und den 4. Platz freuen
Deutschlands Vertreter Michael Schulte lieferte mit "You Let Me Walk Alone" einen zu Herzen gehenden Auftritt ab
Bild: © Andreas Putting


Ihr perfekter Auftritt wurde leider nicht belohnt
Lea Sirk landete mit ihrer Rap-Pop-Nummer "Hvala, ne!" leider nur auf Platz 22
Bild: © Andreas Putting